Paranoia, Amphetamine und Rock’n’Roll

Rockkritik als Katharsis – die leidenschaftlichen Texte der Legende Lester Bangs

Rezension zu „Lester Bangs: Psychotische Reaktionen und heiße Luft“; Edition Tiamat, 400 S., 19,80 Euro; erschienen in Kreuzer Buchmesse-Beilage 03/2009

Da sitzt also dieser ein wenig aufgeschwemmt wirkende Typ mit dem selbst nach zeitgenössischen Kriterien irgendwie lächerlichem Schnauzbart vor einem Lou Reed mit „teigiger Haut“, mit mindestens einer halben Flasche Whisky und werweißwasnochalles intus und versucht, seinen Velvet Underground-Helden mit Fragen nach dessen Drogenkonsum in die Enge zu treiben, während der ihm eine (auch nach damaligen Maßstäben belanglose) Ron Wood-Platte vorspielen will. „Ich bin an einigen Sachen, die du zu sagen hast, interessiert, obwohl ich dich für einen Idioten halte.“ Sagt Lou Reed zu dem Interviewer, wohlgemerkt. Es geht um „Metal Machine Music“, eine genauso akribisch wahnwitzige wie unerträgliche Lärm-Orgie, deren hochgeschraubte Künstler-Attitude den Kritiker abstößt – und die ihn nicht davon abhält, das Album praktisch jeden Tag aufzulegen. Gerade weil es unhörbar und widerlich ist.
Wahrscheinlich reicht es aus, diesen Artikel von 1975 zu lesen, um Lester Bangs zu verstehen. Das schonungslose Protokoll einer paranoiden Beziehung zwischen Rockstar und Ersatz-Rockstar – eben Kritiker –, das heute in einem Musikmagazin zu drucken undenkbar scheint.
Schier unglaubliche 20 Jahre nach seinem Erscheinen ist die Sammlung von Texten des vielleicht wichtigsten und leidenschaftlichsten Rockkritikers aller Zeiten in deutscher Übersetzung zu haben. Herausgegeben von Greil Marcus, der anderen Ikone des Rockjournalismus made in America, der Lester Bangs – „eine Ein-Mann-Orgie der Hemmungslosigkeiten, Exzesse, Weisheiten, Satire, Parodie – das ausgelebte oder geschriebene schlechte Gewissen jeder Band, über die er eine Kritik schrieb oder die er interviewte“ – gut kannte und sich nach dessen Tode durch Tausende, oft unveröffentlichte Manuskript-Seiten las.
Das Ergebnis ist eine Tour-de-force durch die Eingeweide des – nicht nur amerikanischen – Rockzirkus. Man kann dieses Buch auf jeder einzelnen beliebigen Seite aufschlagen und ist sofort into it. Selbst wenn und gerade weil Rock’n’Roll meistens ja so richtig scheiße ist. Hinter den Kulissen, den Teenager-Träumen, den Images. Hinter den Backstage-Türen, wenn es gut geht. Oft genug schon davor.
Lester Bangs: 1948 geboren, die Mutter beinharte Zeugin Jehovas, der Vater Trinker und früh gestorben, als Kind missbraucht, exzessiver Comic-Leser und früh ein Verehrer von Beatnik-Poeten und Free Jazz. Dann explodiert Rock.
Als Bangs 1969 seine erste Plattenkritik für den Rolling Stone schreibt, ein Verriss des MC 5-Albums „Kick Out The Jams“ (später findet er sie dann nicht mehr so schlimm, freundet sich gar mit ihnen an), ist – so schreibt er später – die beste Zeit eigentlich schon wieder vorbei. Schmockrock ist angesagt, Superstars, denen die absolute Leidenschaft abhanden gekommen ist, spielen in Stadien vor zugedröhnten Kids. Rock’n’Roll ist ein durchkalkulierter Geschäftsbereich mit Kosten-Nutzen-Aufrechnungen geworden, getragen von möglichst mehrheitsfähigen musikalischen Verflachungen. Lester Bangs’ Verachtung für Zeitgeist-Stars wie Grand Funk Railroad oder die pompös-erstarrten Led Zeppelin zieht sich jahrelang quer durch seine Texte.
Erst mit dem New Yorker CBGBs-Umfeld mit all den Ramones, Patti Smith’, Blondies und vor allem mit der britischen Punk-Explosion kommt für Bangs wieder Leben in die Bude. Er begleitet The Clash für ein paar Tage auf Tour und erklärt sie prompt zur Antithese des saturierten Rockgeschäfts – aus heutiger Sicht sicher reichlich naiv; aber eben eine leidenschaftliche, besessene, ernsthafte Begeisterung, die die Widersprüche nicht ausspart, wenn sie beschreibt, wie ein Fan der Band, die sich so Fan-nah gibt, grundlos zusammengeschlagen wird.
Ungeschoren kommt bei Lester Bangs niemand davon, nicht die Musiker, die er interviewt oder rezensiert, nicht der Leser, der sich oft durch seitenlange, mitunter glatt zusammengelogene – oder besser: zusammenphantasierte – Assoziations-Tiraden kämpfen muss, und obendrein dauernd beleidigt wird, wenn er denn Fan von Rockmusik ist – weil Bangs eben alles und jeden beleidigt, sogar (und vor allem), diejenigen, die ihm nahegehen, an denen er sich wieder und wieder abarbeitet, aufreibt. (Und selten war wohl ein Kündigungsgrund treffender, als der des Rolling Stone anlässlich einer Rezension von Canned Heat 1971: Lester Bangs wäre nicht respektvoll genug gegenüber Musikern.) Schon gar nicht schont er sich selbst, beschreibt penibel Zweifel, Peinlichkeiten und die eigene Penetranz. Uncool zu sein ist seine Art, mit der Rockstar-Sphäre umzugehen, als Großmaul mit Intimkenntnis über abseitige Bands und Drogenchemie. (Großartig zu lesen ist übrigens seine Herleitung der sich anbahnenden Herrschaft der Maschinen über die Rockmusik anhand der deutschen Erfindungen Amphetamin und Kraftwerk – eine Prophezeiung, die sich erst 15 Jahre später in Berliner Kellern erfüllte, als Techno zum Kultur- und Massenphänomen wurde.)
Beim Rolling Stone rausgeflogen, geht er nach Detroit. Dort erscheint mit Creem das für die nächsten Jahre wegweisende amerikanische Rockmagazin. Die Begriffe „Punk Rock“ und „Heavy Metal“ waren, so die Legende, hier erstmals nachzulesen. Creem begeistert sich früh – früher als alle anderen – für das Abartige, einen neuen Underground, der sich mit seiner aggressiv ausgestellten Hässlichkeit vorerst noch Marketingmechanismen entziehen kann. Lester Bangs verkörpert all das, was Creem ausmacht und was ein bösartiger Leser trefflich zusammenfasst: „Was für ein Typ Mensch schreibt bei Creem Rezensionen? Der Typ, der seine Bildung aus Comic-Büchern hat, seine Schlaghosen von Woolworth und seine Religion von Black Sabbath.“
1983 – mit 33 – in einer Phase, in der er gerade weg war von Alkohol und Drogen, stirbt Lester Bangs zwar überraschend aber irgendwie folgerichtig an einer Medikamenten-Unverträglichkeit. Zumindest musikhistorisch kein schlechter Zeitpunkt zum Abtreten für einen wie ihn, der schon Anfang der Siebziger vom ständigen Wiederkäuen des Dagewesenen angenervt war, und der mit dem puren Hedonismus von Disco nie etwas anzufangen vermochte.
Was bleibt, sind Texte, die heute noch genauso gültig und spannend sind, wie damals. Auch, wenn man noch nie irgendwas von einer Garagenband Count Five und ihrem einzigen Hit „Psychotic Reaction“ gehört hat. Und Greil Marcus hat natürlich recht: „Vielleicht verlangt dieses Buch dem Leser die Bereitschaft ab zu akzeptieren, dass der beste Schriftsteller Amerikas praktisch nichts außer Plattenkritiken schreiben konnte.“
Augsburg

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