Sozialethisch desorientierend

„Der revolutionäre Charakter des Nationalsozialismus“, „Spritz ab – Sklavensau“, „Josefine Mutzenbacher“, „Sailor Moon“ – vor der Bundesprüfstelle sind alle gleich

Erschienen in Kreuzer Buchmesse-Beilage 03/2002

Ein Dutzend Leute sitzen um ein paar zusammengestellte Büromöbel, die so etwas wie einen Konferenztisch simulieren. Es ist schon spät geworden, ein bisschen Ungeduld macht sich breit, während der Verlagsanwalt darlegt, warum die Veröffentlichungen seines Klienten keinesfalls auf den „Index“ gehören – die genauso legendäre wie verhasste Auflistung all dessen, was junge Menschen in diesem Land unter keinen Umständen in die Finger bekommen sollen. Willkommen bei der BPjS – der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften“.
Das „12er-Gremium“ tagt, um über das Wohl und Wehe eines Comics zu entscheiden. Der kleine Leipziger Verlag EEE, gern mit seinem Sex-und-Gewalt-Image werbend, hat sich auf den Weg nach Bonn gemacht, um sein Verlagsflaggschiff „Faust“ – tatsächlich harter Tobak und genau deshalb im Programm – vor einer Indizierung zu bewahren. Die hält das Jugendamt Chemnitz, eine von ungefähr 700 Antragsberechtigten, für dringend angezeigt: „Die Darstellung sexueller und Gewalthandlungen zwischen Menschen und Monstern sind pervers und menschenverachtend. Die Bilder sind pornografisch, weil sie vordergründig primäre Geschlechtsmerkmale von Personen zeigen. … Die o. g. Schrift … ist ein Druckerzeugnis, das geeignet ist, junge Menschen sozialethisch zu desorientieren und eine gesunde Entwicklung negativ zu beeinflussen.“ Der Anwalt hält dagegen, erzählt von „Nur für Erwachsene“-Kennzeichnungen, von vertrackter Story, vom Faustus-Mythos in der Kunst und reicht Kopien von Bosch-Gemälden und Jesus-Darstellungen in die Runde. Dann müssen die „Verfahrensbeteiligten“ auf dem Flur warten, in dessen Arbeitsamts-Atmosphäre ausgerechnet ein Tarantino-Filmplakat Freigeist demonstrieren soll. Zehn Minuten später schüttelt die Vorsitzende dem Verlagschef die Hand und gratuliert: Kunst statt Jugendgefährdung! Nochmal Glück gehabt. (Das Interesse der Oberregierungsrätin, sie würde gern die übrigen Hefte der Reihe kennenlernen, rein privat natürlich, wird tunlichst ignoriert.)
„Eine Zensur findet nicht statt“, steht im Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Klingt gut. Aber die Tugendwächter des Staates haben mit der BPjS, einer hochangesiedelten Bundesbehörde mit gerichtsähnlicher Arbeitsweise, schon früh – 1954 – einen Dreh gefunden, um ihre Vorstellungen von „sittlichem Verhalten nach überzeitlichen Normen der Ethik“ durchzusetzen. So heißt es in einem Urteil von 1955, das Pitigrillis Roman „Kokain“ betraf. Der findet sich inzwischen nicht mehr in der aktuellen Indizierungsliste, die die BPjS vierteljährlich herausgibt. Sie umfasst heute nicht mehr nur Comics und Bücher wie in der Frühzeit der Behörde oder Videos wie vor allem in den Achtzigern, sondern auch Computerspiele (eine Tradition der Neunziger) und – als Referenz an das neue Jahrtausend – Websites.
Eine Indizierung ist kein Verbot im eigentlichen Sinne. Aber ein indiziertes Werk darf Jugendlichen nicht zugänglich gemacht werden, was ein komplettes Werbe- und Darstellungsverbot einschließt. Der Titel verschwindet quasi vom Markt und kann nur noch auf direkte Nachfrage oder in speziellen Einrichtungen – etwa einer sogenannten „Erwachsenenvideothek“ – gefunden werden.
Buchläden kennen keine Schmuddelecken. Gerade bei kleineren Buchverlagen geht eine Indizierung schnell an die Geschäftsgrundlage. Denn der gemeinhin übervorsichtige Buchhändler verzichtet oft lieber gleich auf das komplette Verlagsprogramm, wenn auch nur ein Titel auf dem Index erscheint. Kein Wunder angesichts spektakulärer Hausdurchsuchungen, die Mitte der Neunziger auf Initiative eines Thüringer Staatsanwalts in 1.200 Buchhandlungen – einem Viertel aller Läden überhaupt! – stattfanden und zum Teil in willkürlichen Beschlagnahmungsorgien endeten. Betroffen waren dabei gerade nicht indizierte Titel, was diese dann noch gefährlicher erscheinen ließ.
Vorgebliches Ziel der Indizierung ist der Jugendschutz. Aber gerade der erwachsene Konsument darf sich zu Recht bevormundet fühlen. Für ihn wird es fast ebenso unmöglich wie für seine Kinder, an die – für ihn offiziell unbedenklichen – Werke zu gelangen. Das ist praktische Zensur, dazumal die Gutmenschen in der BPjS oft genug sehr eigenwillige Ansichten vertreten, was „sozialethisch desorientierend“ ausfällt – oder was als Kunst zu betrachten ist.
Denn das Gesetz schließt eine Indizierung aus, wenn „eine Schrift … der Kunst … dient.“ Keine Kunst ist nach Ansicht der Behörde zum Beispiel „Mein erstes Shopping Buch“, ein Fall, der letztes Jahr bundesweit durchs Feuilleton rauschte. Über die ironisch zugespitzte, detaillierte Konsum-Anleitung für Kids mit Kunstanspruch konnte man in der Behörde nicht lachen. Inzwischen wurde es in mehrere Sprachen übersetzt und trotz aller Einschränkungen auch hierzulande ein Erfolg. Die zweite Auflage erschien im Januar.
Auch über weltberühmte Literatur ist man in Bonn gelegentlich sehr eigener Meinung. Erst mit einer guten Rechtsabteilung, dem damit verbundenen finanziellen Polster und dem Urteil eines Oberverwaltungsgerichts konnte zum Beipiel Kiepenheuer & Witsch Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ nach sechs Jahren wieder von der Liste holen. Für Kleinverlage ein aussichtsloses Unterfangen. Die stehen dann in der Liste neben Nazipropaganda oder deftigem Schweinskram. Auf dem Index sind alle gleich.
Augsburg

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