Wie wärs mal mit „Hier“ und „Heute“?

Dieser Kulturentwicklungsplan manifestiert einen überlebten Traditionalismus und hilft Leipzig nicht weiter.
Von Jörg Augsburg

Kommentar; erschienen in Kreuzer 09/2006

„Aus der reichen und weit gefächerten Kulturlandschaft Leipzigs sticht der musikalische Bereich mit seiner bedeutenden Tradition hervor. Dafür stehen Musiker wie Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy sowie Robert und Clara Schumann. … Von dieser Tradition ausgehend soll Leipzig weiterhin als Musikstadt entwickelt werden.“ Das – und neben dem viel diskutierten „Ranking“ substanziell nicht wirklich viel mehr – steht im derzeit vorliegenden Entwurf des Kulturentwicklungsplans. Der forciert fatale Entscheidungen und manifestiert unbefriedigende Zustände, ohne grundsätzliche kulturpolitische Defizite aufzuzeigen oder gar in Angriff zu nehmen.
Defizit Nr. 1: Das Kulturverständnis, das der Politik dieser Stadt vorschwebt, ist gestrig und überholt. Es beschwört mit Bach als kulturellem Allheilmittel, eine Musikkultur, die – bei allem Respekt – nichts anderes als eine ernsthaft zu pflegende Tradition ist. Mit der täglichen Lebenswirklichkeit in dieser Stadt hat sie wenig gemein.
Defizit Nr. 2: Die Kultur dieser Stadt soll sich daran orientieren, was den weltweiten Tourismus interessieren könnte. Verschaukelt mag sich indes vorkommen, wer hier jeden Tag lebt und gänzlich andere Bedürfnisse hat. Vielleicht das, abends um die Ecke ein cooles Konzert sehen zu können und hinterher noch im Club zu tanzen. Was immerhin ein Großteil der jungen Menschen auf der ganzen Welt als entscheidendes Merkmal von Lebensqualität werten würde.
Defizit Nr. 3: Das offizielle Leipzig hat ein gestörtes Verhältnis zu allem, was sich nicht reinen Gewissens als „Hochkultur“ bezeichnen lässt. (Außer es heißt „Classic Open“.) Ersatzweise wird aber immer gern genommen, was sich entweder hochkulturell verbrämt oder wenigstens noch irgendwie mit sozialem Anspruch punkten kann. Jede „Initiative für Musiker, die sonst potenziell rechts wären“ hat also mehr Chancen auf stadtoffizielle Wahrnehmung, als ernsthafte ästhetisch orientierte Zeitgeist-Annäherung. Nichts gegen Engagement an sozialen Brennpunkten – aber wir reden hier immer noch von „Kultur“. Nötig ist eine wohlverstandene Trennung politischer Interessengebiete.
Defizit Nr. 4: Politik und Verwaltung dieser Stadt haben offensichtlich kein Interesse an oder/und keine Ahnung von der täglichen Realität ihrer – laut KEP – jungen Kernzielgruppe. Mindestens im Bereich Popmusik muss man konstatieren: Die Verwaltung hat nicht die (zugegebenermaßen kaum „erlernbare“) Fachkompetenz, um zu wissen, was gebraucht wird, oder einschätzen zu können, was die wenigen Geförderten eigentlich wirklich machen mit dem Geld der Bürger. Der Politik (als deren Arbeitgeber) scheint es egal. Es war doch – beispielsweise – keine übertriebene Erwartung, wenigstens einen Vertreter des Kulturausschusses (immerhin herrschende Instanz über alle Kulturfördermittel) im Juni zum ersten „Runden Tisch Popmusik Leipzig“ seit Wendezeiten im Kulturamt zu begrüßen?
Defizit Nr. 5: Irrsinnige Strukturen (und Ausgaben) werden mit dem Begriff „Leuchtturm“ rechtfertigt. Diese Stadt braucht vielleicht sogar einen Chailly (der allerdings hier kaum zu erleben ist), aber sie braucht ganz gewiss fünf weitere Ilses Erika- oder Superkronik- oderoder-Betreiber, die Kultur mit echtem Leben erfüllen – und das Leben hier mit Kultur. Leipzig braucht natürlich Theater, Orchester und Oper (in dieser Reihenfolge) – aber bitte mit anderen Strukturen und ohne Größenwahn.
Defizit Nr. 6: Der langjährige Beigeordnete für Kultur ist er ein bei allen Interessierten oder Abhängigen gefürchteter Nichtssager und Nichtentscheider, der übrigens per KEP die Hoheit über sein Amtsgebiet gerade an das Stadtmarketing verscherbelt. Und er ist erster Protagonist eines überlebten nichturbanen Kulturbegriffs. Den Schaden hat Leipzig.

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